Samstag, 1. August 2009

Heute in Frankfurt

Eine Ansage in der Straßenbahn: “Dom / Römer. Zum Frankfurter Weihnachtsmarkt bitte hier aussteigen.” Hat sich jemand im Kalender geirrt? Der Geruch von gebrannten Mandeln und Fritierfett umweht mich, Imbißstände auf dem Römerberg. Und ich fürchte, diesmal fangen sie schon im Hochsommer mit dem Weihnachtsmarkt an. Morgen beginnt der August, bald gibt es wieder Lebkuchen im Supermarkt. Doch diesmal falscher Alarm, das Fest nennt sich “Mainfest”. Besucherströme drängen in Richtung Stände, ich suche mir einen anderen Weg. In der Fußgängerzone Berge von silbernglänzenden, leeren Plastikbechern unter überquellenden Mülleimern. Leute in Gruppen, alle mit einem Becher Eiskaffee in der Hand, es gibt etwas umsonst. Eine Menschentraube, Kartons, eine Frau verteilt angestrengt Kaffeebecher. Sie werden an Ort und Stelle geöffnet, ausgetrunken, fallengelassen. Manche bleiben inmitten von Müllbergen stehen. Lauter trinkende Menschen, die es sich nicht ausgesucht haben, dieses Getränk zu dieser Zeit zu trinken. An einem der Plastiktische eines Schnellrestaurants sitzen zwei Männer, jeder hat drei Becher Eiskaffee vor sich stehen, sie strahlen vor Erobererstolz. Gelungene Werbung. Ich weiche jemandem aus und trete in eine Kaffeepfütze. Ein junger Mann will mir eine Frankfurter Rundschau aufdrängen, “Einmal probelesen, die Dame?”, hält mir die Zeitung direkt vors Gesicht, ich will sie nicht einmal geschenkt. Frankfurt ist heute anstrengend. Und das alles ist der Grund, warum ich gerade Oscar Wildes Gedichte lese: um Lebensekel mit Lebensekel zu vertreiben.

Taedium Vitae

Mir meiner Jugend eigner Mörder sein
In dieses leeren Daseins närrischer Tracht,
Zu fühlen, wie Gemeinheit ärmer macht,
Und wie die Seele krankt in Liebespein,

Und blindem Zufall mich zum Sklaven weihn -
Ich schwör's: ich lieb es nicht! Geringer acht
Ich dies als Schaum, der auf den Wassern lacht,
Als samenlose Distelflocken. Nein,

Viel besser fern von diesen Narren stehn,
Fern ihrem Unverstand und rohen Spotte,
Und sich verkriechen in der tiefsten Grotte,

Als in den heisern Streit zurückzugehn,
Wo mir zum erstenmal der sündigen Lüste
Gemeiner Mund die weiße Seele küsste!

Freitag, 31. Juli 2009

Dem unbekannten Denker

Heute begehen wir den 100. Geburtstag eines großen Denkers, von dem die meisten wahrscheinlich noch nie gehört haben: Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn (1909-1999). Wer er war? Ein großer Freiheitsdenker, Katholik und Monarchist, der vielleicht scharfsinnigste Kritiker der Französischen Revolution und des Sozialismus. Warum man ihn nicht kennt und sein Gedenktag heute in Spiegel, Welt und co. keine Erwähnung finden wird (- und ich würde mich gerne täuschen)? Eben drum. Wer den Ritter kennenlernen will, findet an abgelegener Stelle einige Texte. Und sogar eine nette Satire: Rezept für einen christlichen Roman.

Dienstag, 28. Juli 2009

Bücherflohmarkt

Lange Zeit habe ich jedes Buch aufbewahrt, aus Respekt vor dem geschriebenen Wort oder warum auch immer. Dann habe ich mal meine Bücherregale inspiziert, ganze Regalmeter mit Büchern entdeckt, in die ich nie mehr reinschauen werde und das alles bei Amazon eingestellt. Hier nun die Sparten, die sich am besten und schnellsten verkaufen:
1. Tierbücher, alles über Meerschweine, das geht weg wie warme Semmeln.
Es folgen mit weitem Abstand:
2. Fachbücher, die irgendwer noch an der Uni braucht.
3. Psycho-Literatur, angefangen mit Freud
4. amerikanische Schriftsteller
5. Bücher über Vegetarismus und Frauenrechte
6. Philosophie, vor allem über Poststrukturalismus und solchen Kram

Ladenhüter: eindeutig deutsche Belletristik. Goethe.

Montag, 27. Juli 2009

Barbey d'Aurevilly über Goethe

Er mochte Goethe nicht und bemühte sich nicht um ein ausgewogenes Urteil. Gut so. Denn seine Abhandlung „Gegen Goethe“ fällt in die Gattung „Schimpftirade“ und ist als solche brillant. Was wirft Barbey d'Aurevilly Goethe also vor?

Vor allem: Mangel an Originalität. Goethe ist eine „Leseratte, ein Papierkratzer und Papierzuschneider“ (S. 28), „er kompilierte, kompilierte, las viel und erfand nichts.“ (S. 29)
Sein Faust ist bloß eine Bearbeitung von Marlowes Vorlage, die besser war, und „besteht nur aus einem unzusammenhängenden Wust ohne jedwede Art von Komposition“ (S. 16).

Und das war noch sein bestes Stück.

Götz von Berlichingen: „Wie im Kindertheater wechselt der Schauplatz der Handlung in jeder Szene, oder besser gesagt in jedem Szenchen, denn es gibt Szenen von (ich habe gezählt) nicht mehr als sechs Zeilen Dialog zwischen zwei Umbauten.“ (S. 23)

Egmont: „nichts anderes als ein Defilee von längst bekannten Personen und Ereignissen, ein historischer Wandteppich. Die Figuren erreichen nicht einmal ihre natürliche Größe. Das Auge Goethes, auf das er so stolz ist, ist manchmal wie das Augenglas des Kurzsichtigen: Es verkleinert, was er sieht, und das ist eben seine Art, es zu sehen...“ (S. 25)

Torquato Tasso, Iphigenie und Stella: „gehören zu diesen diluvianischen Ergüssen von Langeweile, denen selbst der abgehärteste Leser nicht mehr standhalten kann. Er löst sich in ihnen auf und behält dabei noch das Bewußtsein der Langeweile, die ihn ertränkt und ihn umbringt, ohne ihn umzubringen.“ (S. 32)

Faust II: „ist nicht einmal ansatzweise zu verstehen. Man begreift nicht, wie Goethe sein ganzes Leben lang eine solche Masse an mythologischem Kinderkram in sich aufnehmen konnte, um sein Alter damit zu vertun, sie der menschlichen Gattung ins Gesicht zu rülpsen. Das ist ein Geschwätz ohne Maß.“ (S. 33)

Soviel zu Goethes tragischem Genie. Komödien konnte er leider auch nicht schreiben:
„Wir müssen uns nun mit seinem komischen Genie befassen, denn Goethe hielt sich für eine Doppelbegabung. Der ambitionierte Tausendsassa in ihm versuchte sich auch an der Komödie, und er legte seine deutsche Tatze an dieses Genre wie ein Bär die seine an eine Filigranarbeit. Nun, was ein Komödienschreiber oder -dichter vor allem braucht, dringender sogar als Tiefgang, den er auch haben muß, sind Geist und Heiterkeit, die beiden Dinge, die mit dem Wesen Goethes am allerwenigsten vereinbar waren, und obwohl er eingebildet genug war, sich für einen Aristophanes zu halten, war er so bleiern wie sein Schreibgerät...[...] Dieser deutsche Plumpsack war absolut unfähig, auch nur den kleinsten Harlekin auf die Beine zu stellen.“ (S. 33f.)

Aber vielleicht Romane?
Wilhelm Meister und die Wahlverwandschaften sind keine Bücher, „nicht einmal mehr schlechte, sondern nicht mit Namen zu bezeichnende, nicht wiederzugebende, unlesbare Dinge – und das auf jeder Ebene der Texte.“ (S. 54) Wilhelm Meister ist ein „Chaos von Wesen, die keine Figuren sind, die, man weiß nicht mehr recht in was eigentlich, kreisen, inmitten dieses Gewühls von Begriffen, Kenntnissen und Theorien, die den Eindruck eines Narrenspektakels in einem umgekippten Trödelladen machen. Man braucht mit den Worten nicht zu fackeln: Wilhelm Meister und die Wahlverwandschaften sind Phänomene der Dummheit.“ (S. 54)

Doch Goethes größtes Verdienst vermag selbst Barbey d'Aurevilly anzuerkennen: „Und diese unermeßliche Langeweile, in der ich Goethes Stärke sehe, war seine einzige schöpferische Leistung.“ (S. 55)

Und so weiter über knapp hundert Seiten. Man erfährt außerdem, warum Goethes Gedichte nichts taugen, Goethe in der Tiefe seines Wesens ein Hindu war („Es ist etwas Hinduistisches an ihm, aber gemäßigt durch das Sauerkraut“, S. 45), selbst als Reisender nur mittelmäßig war, die transzendenten Schönheiten des katholischen Gottesdienstes nicht erfassen konnte, sein Leben ziemlich blöd war und seine Liebschaften bloß „Kindereien von Hochzeiten zwischen kleinen Jungen und kleinen Mädchen, wenn die Zeit der Puppen und Kasperles vorbei ist.“ (S. 69). Frauenfiguren gibt's in seinem ganzen Werk nur eine, nämlich das Gretchen, „die elementare und deutsche Frau, von der in dieser Studie schon so oft die Rede war, das „Ewig-Weibliche“, wie es Goethe nennt, und das ich zutreffender die „ewige Kaulquappe“ nenne!“ (S. 52)

Da Barbey d'Aurevilly großartig formulieren konnte, ist das Buch ziemlich lustig, und ich beneide alle, die ihn damals in den Pariser Salons erleben durften. Außerdem fühle ich mich nachträglich getröstet, weil ich mich zu Studienzeiten, im Wilhelm Meister-Hauptseminar, ENTSETZLICH gelangweilt habe. Vielleicht lag es also doch nicht an mir!

Barbey d'Aurevilly schimpft, spottet, verunglimpft, und er ist darin unbestritten der Größte. Nett ist das nicht, aber bei ihm ist es eine Kunstform: Goethe ist für ihn der Stoff, mit dem sich diese Form besonders gut ausfüllen läßt.

Freilich darf man Barbey d'Aurevillys flammende Polemik nicht mit gelehrter Kritik verwechseln – sowas fand er ohnehin langweilig. Das Nachwort von Lionel Richard ist zwar aufschlußreich, denn man erfährt, daß sich die Sticheleien gegen Goethe eigentlich noch an eine zweite Adresse richteten: an den Literaturkritiker Charles-Augustin de Saint-Beuve, Barbey d'Aurevillys verhaßten Rivale - ein Goethe-Liebhaber. Dennoch wird Barbey d'Aurevilly hier für meinen Geschmack zu sehr geschulmeistert: Richard möchte Goethe verteidigen, rhetorisch freilich viel schwächer als der wortgewaltige Angreifer, und wirft ihm Ungenauigkeit vor, Ungerechtigkeit, parteiische Lektüre und Schwarzmalerei. Ebenso könnte man freilich einer Satire vorwerfen, daß sie Sachverhalte überspitzt darstellt, oder einem Comic, daß er nicht auf bunte Bilder verzichtet. Denn das alles war des Autors Absicht.

Vorsichtshalber fügt Richard in seine Gedankenkette noch ein paar Totschlagargumente ein, damit der heutige Leser vor dem bösen, großen Literaturkritiker gewarnt ist: Nicht, daß er ihm am Ende noch recht gibt. So erinnert Richard daran, daß Barbey d'Aurevilly Monarchist war und außerdem ziemlich intolerant*, was in unserer Gesellschaft freilich beides zu den größten Häresien gehört. Und fast noch schlimmer:

„Er reiht sich in die Tradition einer katholischen Kritik ein, die aus parteilichen theologischen Gründen in Goethe stets einen gefährlichen Feind gesehen hat: Weder der getaufte Protestant findet Gnade noch der Dilettant, der sich auf der Suche nach einem Synkretismus von allen Religionen und Glaubensrichtungen nährt, bis er im Evolutionismus, dem Freimaurertum und dem Atheismus Halt findet.“

Nun gut, das allein wären für mein Empfinden ja schon genug Gründe, Goethe nicht zu mögen. Was auch immer Barbey d'Aurevilly jedenfalls tat: Er pfiff auf literarische Moden und auf den Zeitgeist, und das gefällt mir.

Ach ja, ich hätte da noch eine ziemlich gut erhaltene (weil lediglich kurz angelesene und dann schnell ins Bücherregal verfrachtete) Insel-Ausgabe von Dichtung und Wahrheit, die ich wirklich nicht mehr brauche. Wenn die also einer haben will...

*Toleranz - da habe ich gerade erst irgendwo eine schöne Definition gelesen: bedeutet heute, sämtliche Meinungen gleichzeitig für wahr zu halten. Wenn ich jetzt nur wüßte, wer das gesagt hat...

Jules Barbey d'Aurevilly: Gegen Goethe, Berlin: Matthes & Seitz, 2006.