Sonntag, 24. Juli 2011

Ehe als Privileg

Vor kurzem war ich mit einer Freundin in einer Gemäldeausstellung. Ihr fiel auf, daß auf mittelalterlichen Gemälden die körperlichen Proportionen nicht stimmen: Kinder mit den Körpern kleiner Erwachsener, völlig aus den Fugen geratene Körperformen. Sie führte dies darauf zurück, daß die Maler im Mittelalter zu prüde waren, sich nackte Menschen anzusehen und deshalb nicht wußten, wie Körper aussehen. Sie hatte sich freilich nie mit dem Mittelalter beschäftigt, nur die Denkfigur war da: Der glorreichen Ungezwungenheit unserer Tage steht ein düsteres, zwanghaftes Mittelalter gegenüber. Das Fortschrittsparadigma führt eben zu einer selektiven oder verdrehten Wahrnehmung der Vergangenheit. 
Doch sicher pflegt jeder falsche Vorstellungen über die Vergangenheit. Das, was zurückliegt, eröffnet einen unendlichen Raum für Projektionen – gleichgültig, ob man auf düstere oder goldene Zeiten zurückblicken möchte.
Mir sind häufig religiöse Menschen begegnet, die denken, früher hätten fast alle früh geheiratet. Wer ehelos blieb und sich nicht für ein Ordensleben oder das Priestertum entschied, sei ein Außenseiter, eine bedauernswerte, kauzige oder halb komische Figur gewesen. 
Freilich gab es zu allen Zeiten Gesellschaften, in denen eine frühe Heirat gefordert wurde oder erwünscht war. Es gibt sie auch heute. Doch ganz so einfach war es mit dem Heiraten früher nicht. Von der Obrigkeit erlassene Ehebeschränkungen waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Regel. Oft war zum Beispiel die Heirat mit Ortsfremden verboten oder der Nachweis eines Mindestvermögens oder eines bestimmten beruflichen Status notwendig. Das führte dazu, daß viele Menschen ledig blieben oder erst spät heirateten. Das Vorhandensein vieler Singles ist also kein Exklusivmerkmal westlicher Metropolen unserer Zeit. Es gab durchaus Zeiten, in denen es ein Privileg war, heiraten zu dürfen ...
Doch waren auch die Vorstellungen von Ehe anders als heute. Lange Zeit war sie in erster Linie eine wirtschaftliche oder dynastische Angelegenheit. Die Vorstellung, daß Liebe, Ehe und Sexualität untrennbar zusammengehören und die Liebe den familiären Zusammenhalt begründet, wurde erst im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem im aufstrebenden Bürgertum populär. Erst da bekam das Gefühl der Liebe den Status, den es heute hat. Eheliche Liebe wurde zur Herzensangelegenheit. Dabei entstanden neue Zwänge: Das Gefühl, unberechenbar und diktatorisch wie es ist, übernahm die Herrschaft. Doch ein flüchtiges Gefühl kann keine Beständigkeit garantieren, und überall lauert die Gefahr schwerer emotionaler Verletzungen. 
Wie dem auch sei: Es kann sehr schwer sein, einen Ehepartner zu finden. Gründe gibt es viele: Man findet niemanden, wird immer wieder verlassen, hält sich nicht für liebenswert, andere halten einen nicht für liebenswert, man ist zu attraktiv oder zu unattraktiv, zu anspruchsvoll oder zu kompromißbereit, zu zurückhaltend, zu kompliziert, zu ängstlich, hat kein großes Interesse an sexueller Betätigung, keine Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, zuviele schlechte Erfahrungen gemacht, ist nur Menschen begegnet, die vollkommene Übereinstimmung suchen. Oft hat man es nicht in der Hand, und selbst eine jahrelange Parship-Mitgliedschaft bietet keine Garantien. Und wer verzweifelt sucht, so lautet die Regel, findet erst recht nicht. Man braucht auch ein bißchen Glück. Und letztlich: Wenn man einen Partner findet, ist das ein Geschenk. Einen Anspruch darauf hat man nicht.
Auf katholischen Veranstaltungen, gerade aus dem sogenannten neokonservativen Spektrum, sehe ich oft viele kinderreiche Familien. (Ich vermute, daß es bei den Traditionalisten ganz ähnlich ist.) Aus meiner Single-Sicht also: reich Beschenkte. Diese wecken oft den Eindruck, daß sie unter sich bleiben wollen, sich nur mit anderen Müttern oder Vätern austauschen wollen. Das verstehe ich, denn wahrscheinlich haben sie in ihrem Lebensumfeld nicht so viel Gelegenheit zum Austausch. Nur würde ich mir wünschen, daß man mich mit dem Klischee vom hedonistischen Single-Leben verschont. Das höre ich einfach zu oft: Singles seien egoistisch, denken nur an Spaß, tun nicht Gottes Willen. Oder man müsse einfach mehr beten, dann wird es schon klappen. 
Doch daß Gott alle Wünsche erfüllt, wäre mir neu. Daß er die, die ihn lieben, mit einem wohlanständigen Familienleben belohnt ebenfalls. Gott ist nicht dazu da, die Glücklichen noch glücklicher und die Erfolgreichen noch erfolgreicher zu machen.
Ich habe schon oft gehört, daß Menschen sich nur in der Liebe verwirklichen können – in der Liebe zu einem Ehepartner oder zu Gott (und mit Liebe zu Gott ist dann in der Regel eine religiöse Berufung gemeint). Das mag sein. Aber in einer gefallenen Welt haben eben nicht alle die Möglichkeit, ihre Bestimmung zu verwirklichen. Im Gegenteil: Die Wenigsten haben diese Möglichkeit. Wieviel Prozent der Menschen führen denn ein Leben, das dazu lang genug ist?
Man muß das nicht begreifen, aber man muß es akzeptieren. Man kann darauf hoffen, getröstet zu werden. Doch wenn das so ist, kann es auch nicht entscheidend sein, daß man sich ein bürgerliches Familienidyll errichtet und auf diese Weise sein gottgefälliges Leben unter Beweis stellt. Es ist schön, wenn man so reich beschenkt wird. Aber entscheidend ist nur der Glaube an Christus.

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